Mein kleiner Reisebericht handelt von einem dieser Momente, an dem sich die Inseln entschlossen zeigen, dem Betrachter das ganz große Landschaftskino zu präsentieren. Diese Momente sind, finde ich nicht planbar und treten zumeist auf, wenn man überhaupt nicht damit rechnet, oft sogar an Tagen, die eigentlich wenig verheißungsvoll beginnen. Das meiste hat sich so zugetragen, wurde aber mit meinen damaligen Assoziationen ausgeschmückt. Manche Zeile würde ich heute nicht mehr so schreiben, aber was soll´s, es ist halt eine kleine "Schwämerei". Und das Erlebnis selbst gehört für mich noch immer zu meinen absoluten Kanaren Highlights.
Eine Schüssel voll Milch
Es war einer jener wenigen zäh bewölkten Tage an denen die ganze Westküste, ja selbst Puerto de Tazacorte unter einer grauen, trist anmutenden Wolkenschicht lagen. Als erfahrener La Palma Urlauber weiß man, dass die Insel in solchen Fällen oft jene belohnt, die sich ins Auto setzen und versuchen das schöne Wetter in anderen Inselteilen oder Höhenlagen aufzuspüren, und das die Übergangszonen zwischen Sonnenschein und dichter Bewölkung, die man dabei durchfährt oft die faszinierendsten Urlaubserinnerungen prägen. Und so entschlossen wir uns an diesem Tag unser Glück am Aussichtspunkt der Cumbrecita zu versuchen…
Bald erreichten wir das schöne, unterhalb der Cumbrecita gelegene Riachuelo-Tal und fuhren, eine Serpentine nach der anderen erklimmend, in die Berge hinauf. Immer dichter wurde die Wolkendecke, die uns wie eine graue und kalte Suppe umgab. Selbst von den ausgedehnten Kiefernwäldern war bald kaum mehr etwas zu erkennen und langsam fragte ich mich, ob meine Idee wirklich so gut gewesen war. Doch als ich schon bereit war, mein Vorhaben aufzugeben und umzudrehen, schien die Sonne dann doch noch ein Einsehen zu haben, und auf einmal wirkte es so, als würde die tiefhängende Wolkendecke leicht erhellt. Und kurz bevor wir den auf 1300 Meter Höhe gelegenen Aussichtspunkt erreichten, durchdrangen dann die ersten Sonnenstrahlen die Wolken und schemenhaft, ja fast unwirklich, waren einige Bergspitzen zu erkennen. Wie in einzelnen, gebündelten Strahlen fiel das Sonnenlicht nun durch die Wolkendecke auf den Waldboden und hier im Übergangsbereich zwischen Helligkeit und Dunkelheit schien der Wald auf einmal wie verzaubert. Kurz vor Erreichen des Aussichtspunkts durchstießen wir endgültig die Wolkendecke und gelangten an den Rand, des riesigen Erosionskraters. Hier oben war es bei wolkenlosem Himmel angenehm warm und nur wenige andere schienen den Weg hierher gefunden zu haben. Wir parkten unseren Leihwagen auf dem nahezu verwaisten Parkplatz, stiegen aus und blickten in den gigantischen Krater. Unwillkürlich lief mir ein Schauer über den Rücken. Die ganze Caldera war bis knapp unterhalb unseres Aussichtspunktes mit schneeweißen Wolken gefüllt. Wie wabernde Milch hing der Wolkenteppich auf fast 1300 Meter Höhe in der Caldera und ließ keinen Blick auf die Schluchtenwildnis im Inneren des Kraters zu. In Zeitlupe bewegten sich die Wolken knapp unter uns und obwohl kein Windhauch zu spüren war, schien das Wolkenmeer doch in steter, langsamer Bewegung zu sein und die Luft mit einem leisen Rauschen zu erfüllen. Gegenüber in ca. 8 Kilometer Entfernung erblickten wir die schroffen Felswände der nördlichen Caldera-Randberge, die sich 1000 Meter hoch aus diesem weißen, wabernden Ozean erhoben. Fast zum Greifen nah wirkten sie, als könnte man mal so eben durch die Wolken waten und den Astronomen in ihren Observatorien einen „Guten Tag“ wünschen. Plötzlich bemerkte ich jemanden im Augenwinkel. Ein Palmero war an den Kraterrand getreten und begann lauthals mit famoser und beseelter Stimme ein kanarisches Volkslied in die Caldera zu schmettern. Vom ersten Ton an waren wir ergriffen und auch die wenigen anderen Besucher des Aussichtspunktes eilten rasch herbei, um in den Genuss dieser ungewöhnlichen Gesangsdarbietung zu kommen. Alle lauschten sichtlich entzückt diesem unbekannten Palmero, der ob der Schönheit dieses Augenblicks seinen Gefühlen freien Lauf ließ und die Schönheit seiner Heimatinsel besang. Als der Sänger seine kurze, aber grandiose Gesangsdarbietung beendet hatte, brandete heftiger Applaus auf und alle hatten das Gefühl, einen außergewöhnlichen Moment erlebt zu haben. Der Palmero verbeugte sich kurz und schüchtern vor seinen Zuhörern, danach zwinkerte er einmal in die Runde, drehte sich um und ließ sein verzücktes Publikum zurück.
Auch wir wandten uns gerührt ab und machten uns auf den Weg zum nahe gelegenen Mirador de las Chozas. Gemächlich spazierten wir schweigend Richtung Mirador und wurden bald vollends von der zauberhaften Stimmung eingenommen. Mehr und mehr drang das sanfte Rauschen, das die ganze Caldera zu füllen schien, an mein Ohr. Außerdem roch es überall wohltuend und noch intensiver als sonst nach Kräutern und Kanarenkiefern, als hätten die Wolken diese Gerüche aufgesogen und würden sie jetzt wieder freigeben. Dann erreichten wir den wunderschön gelegenen, leicht in die Caldera hineinragenden, Mirador. Wir setzten uns auf das Holzgeländer und blickten schweigend, jeder für sich in das faszinierende Wolkenmeer hinab. Keine Stimme, kein Laut menschlicher Zivilisation drang mehr an unsere Ohren, nur noch das Rauschen dieser Wolkenwetterküche und ab und zu der Schrei einer Graja, der endemischen Inselkrähe, oder eines anderen Vogels. Manchmal sah man eine der Grajas aus den Wolken auftauchen und langsam ihre Kreise ziehen - um kurz darauf wieder im Wolkenmeer zu verschwinden. Andere Vögel tauchten wie aus dem Nichts aus den Wolkenbänken auf und flogen schnurstracks und so zielgerichtet durch die wabernde Masse, als wären sie auf dem Weg zur Arbeit oder zu einem anderen wichtigen Termin.
Plötzlich spürte ich wie eine leichte, aber merkliche Brise aufkam und als hätte ein Riese seinen überdimensionalen Kochlöffel in die Schüssel der Caldera getaucht und umgerührt, begann die Wolkensuppe in Bewegung zu geraten. Die dichten Wolkenbänke rissen an manchen Stellen auf und wie aus dem Nichts tauchten immer wieder scharfe Grate und schroffe Bergspitzen auf. Alles schien in Bewegung geraten zu sein und in immer schnellerer Folge tauchten die in die Caldera hineinreichenden Bergrücken und die darauf stehenden Bäume aus den Wolken auf, um sogleich wieder darin zu verschwinden. Dann übernahm vollends die Imagination die Regie über meine Wahrnehmung und ich sah, wie sich der ganze Bergwald in Bewegung setzte. Erst schienen es nur vereinzelte Bäume zu sein, doch dann wurden es mehr und mehr und bald schritt der ganze Wald zu Tal. Auf den stufenartig in die Caldera abfallenden Steilwänden schienen sich die Kiefern zu stauen, als hätten sie Angst vor dem Sprung in die Tiefe. Anderswo auf den seichter hinabführenden Bergflanken sah es so aus, als würden sie regelrecht dahineilen. Aber alle schienen ein Ziel zu haben, die Playa de Taburiente im Grund des riesigen Erosionskraters. Dann flaute, genauso plötzlich wie sie gekommen war, die Brise ab und kurz darauf war alles unter uns schon wieder in einen Mantel von Wolken gehüllt.
Ich blickte mich um und sah in das entrückte Gesicht meiner Partnerin - und wusste nichts zu sagen. Was hatte sie gesehen? Wortlos gingen wir zum Auto zurück.
Doch während wir langsam zum Wagen schlenderten, schien die Caldera gewillt zu sein, noch einen letzten großen Vorhang zu bieten. Nach und nach begann die mittlerweile tiefstehende Sonne, die aus den schneeweißen Wolken herausragenden Steilwände in ein sattes, rotes Abendlicht zu tauchen.
Ganz großes Kino an einem Tag, der überhaupt nicht darauf hindeutete…


